
Die Bernstein Papers
Eine Liebeserklärung an Karamell und seine enorme Bedeutung in der Küche. Plus: der perfekte süßsaure Krautsalat.
Es folgt jetzt eine kleine Chemiestunde. Die ist nötig, um einen der faszinierendsten Prozesse verstehen und anwenden zu können, die in der Küche ablaufen: die Verwandlung von gemeinem, nichts als süßem Kristallzucker in herrlich duftendes Karamell mit einem schier unendlichen Spektrum an feinen aromatischen Noten. Das Wort selbst ist spanischen Ursprungs; caramelo bedeutet genau das, was es ist, nämlich: gebrannter Zucker.
Wer sich ein wenig mit Karamell beschäftigt, wird feststellen, dass es da eine ganze Reihe von Nuancen gibt. Wissenschaftlich gesehen sind es zwölf. Farblos geschmolzener Kristallzucker zieht bei etwa 100 Grad in kaltem Wasser Schlieren; diese ersten Stufen heißen kleiner und großer Faden.
Die Bräunung von Saccharose, also Kristallzucker, beginnt bei etwa 160 Grad: Es entstehen recht rasch nacheinander helles, mittleres und dunkles Karamell; im Farbton Bernstein ist Karamell aromatisch perfekt. In Phase zwölf jedoch zerfällt der Zucker zu schwarzem ungenießbarem Kohlenstoff; diese Stufe heißt im chemischen Fachjargon übrigens Affenblut.
Am besten schmeckt Karamell in der Phase, die „starker Bruch“ genannt wird. Wenn der Zucker zu ungenießbarem schwarzem Kohlenstoff verbrannt ist, heißt das Affenblut.
Ich danke für die kurze Aufmerksamkeit. Wir können uns nun den angenehmen Dingen zuwenden: Karamell, das geradezu süchtig macht. Ein kleiner Parcours durch die Küchen dieses Planeten zeigt, dass ohne Karamell gar nichts geht und die Welt ein großes Stück ärmer wäre. Man muss die Sache mit dem Karamell ja nicht so posh angehen wie die spanische Küchenchefin Carme Ruscalleda. Als ich vor vielen Jahren einmal in ihrem mittlerweile geschlossenen Restaurant „San Pau“ nördlich von Barcelona essen durfte, servierte sie eine beinahe rohe, gesalzene Garnele, die unter einem zähflüssigen Gelee aussah wie vor Millionen von Jahren in Bernstein gegossen. Die Masse bestand aus schlichtem Karamell, das sie mit einem Zigarrensud (aus einer in etwas Wasser ausgekochten Cohiba aus Kuba) abgelöscht hatte. Zigarre und Karamell – da haben sich in der Tat zwei Aromenfeuerwerke getroffen.
Creme brulée, Panna cotta & Dulce de leche
Allerweltskaramell also: Die berühmte Tarte tatin, der gestürzte Apfelkuchen, bezieht sein süchtig machendes Potential vor allem aus der Karamellisierung von Äpfeln; eine Creme brulée ist nur unter einer splitternden „Eisschicht“ aus gebranntem Zucker so gut; das gilt im Übrigen auch für die mit flüssigem Karamell übergossene Panna cotta. Karamellisierte Äpfel sind perfekte Partner für alle Arten von Leber; und Chicorée und Radicchio, die beiden bitteren Triebe, gewinnen, in flüssigem Karamell geschmort, ungemein an Charakter.
Soll ich noch die betörende Dulce de leche aus Lateinamerika erwähnen? Oder die vielen Toffee genannten Plombenzieher wie Werther´s Echte und Stollwerck? Oder die zahllosen Süßspeisen der orientalischen Küche von Nordafrika über die Türkei bis nach Persien, in der Köchinnen stundenlang Karamell für picksüße, aber süchtig machende Desserts rühren, die dann an großen Tafeln, über denen schon die Zahnärzte kreisen, von strahlenden Kindern und Erwachsenen verzehrt werden? Der türkische Milchreis Firin Sütlac etwa, der mit mutig dunkel gebräuntem Zuckersirup übergossen wird, oder Layali Lubnan, der mit je nach Geschmack heller oder dunkler Karamellsauce servierte Pistazienpudding aus dem Libanon.
Persisches Waxing
Wie heißt doch gleich einer der schönsten und erfolgreichsten libanesischen Filme? „Caramel“ (2007; Regie: Nadine Labaki). Da tun die Frauen für ihre Beine genau das, was man im Orient schon in der Antike mit Karamell tat: Die einst schmerzhafte, heute schon weiter entwickelte Methode der Körperenthaarung mit geschmolzenem Zucker heißt immer noch persisches Waxing.
Warum aber verträgt sich der gebrannte Zucker so gut mit Salz? Wie so viele kulinarische Märchenerzählungen beginnt auch diese in Frankreich, und zwar in der – wenn wir es verniedlichend sagen wollen – Backstube des Patissiers Pierre Hermé (Jahrgang 1961); natürlich betreibt der in Wahrheit keine Stube, sondern ein ziemlich erwachsenes Labor. Hermé, der als großer Erneuerer der süßen Küche gilt und auch schon als „Picasso der Patisserie“ bezeichnet wurde, experimentierte ab den 1980er Jahren mit Macarons; unterem anderen erfand er eines mit dem Duft von persischen Rosen, das er der Schah-Witwe Farah Pahlavi widmete. Als revolutionär aber entpuppte sich ein anderes Macaron – nämlich jenes mit Salzkaramellfülle.
Die Sensation mit Salz und Zucker
Erfunden hat Hermé diese Jahrhundert-Praline aber nicht. Das war das Verdienst von Henri le Roux, der 1977 in der Bretagne eine Schokolade-Manufaktur etablierte und dort, gleichsam alchemistisch, nach einem Bonbon suchte, das die Welt zuvor nicht gesehen hatte. Und weil ja die Bretagne das heilige Land der gesalzenen Butter ist, führte er diese mit Karamell zusammen.
Zum Turbo der Salzkaramell-Globalisierung aber wurde Hermé mit seinem Macaron. Es zog immer weitere Kreise, landete in Londoner Nobelkaufhäusern wie Selfridges und Harrod`s und setzte schließlich in die USA über, wo cremiges Salzkaramell wie ein Tsunami die Regale des Lebensmittelhandels flutete; es gab Bonbons, Cremen, Puddinge, Eis, Kaffees, you name it. Richtig cool wurde Salzkaramell 2008, als Barack Obama bekannte, den in Schokolade getunkten und mit geräuchertem Meersalz bestreuten Pralinen eines Herstellers aus Seattle verfallen zu sein.
Aromabombe mit Suchtpotenzial
Nur was hat es auf sich mit dieser Traumhochzeit der gegensätzlichen Substanzen Salz und Zucker? Die Sensation ist erstaunlich gut erforscht. Man kann die Empfindungen beim Genuss von Salzkaramell mit jenen unmittelbar nach einem Schuss Heroin vergleichen; in beiden Fällen werden körpereigene Opioide freigesetzt. Dieses Phänomen bezeichnet man in der Wissenschaft als Hedonistische Eskalation. Und das passiert dabei: Wenn Zucker karamellisiert, bringt die geschmolzene Masse mehr als 4000 aromatische Inhaltsstoffe hervor, die in Kombination mit Salz und Fett ständig neue Geschmackssensationen hervorbringen.
Salzkaramell bewirkt eine sogenannte Hedonistische Eskalation. Und die spielt auch bei der Oniomanie eine Rolle. Das ist nichts Frivoles, sondern einfach nur der Fachbegriff für Kaufrausch.
Simpel gesagt: Jeder Bissen schmeckt betörend anders und macht süchtig nach dem nächsten; die Hirnregionen, die normalerweise Sättigung signalisieren, sind blockiert. Kein Wunder, dass der Effekt der Hedonistischen Eskalation auch bei der Oniomanie eine Rolle spielt; das ist nichts Frivoles, sondern der Fachbegriff für Kaufrausch.
Für mich eine der reizvollsten Anwendungen von Karamell ist der warme Krautsalat mit Speck, der noch zwei zusätzliche Komponenten in den Salzkaramell-Flash einbringt – nämlich Säure und Selchtöne. Ich halte ihn zu Ente, Gans und Schweinsbraten für unverzichtbar.
REZEPT

Karamellisierter Krautsalat
mit Speck
ZUTATEN FÜR 4 PERSONEN
- 1 Happel Weißkraut (am besten Filderkraut)
- 1 gute Prise Salz
- 3 EL Rohrzucker
- 2 EL Kümmelsamen
- 3 bis 4 EL Sonnenblumenöl
- 1 Schuss Weißwein- oder Apfelessig
- Salz
- weißer Pfeffer
- 100 g gewürfelter Bauchspeck
- einige Tropfen Balsamico
ZUBEREITUNG
- Den Weißkrauthappel in fein nudelige Streifen schneiden, mit etwas Salz bestreuen, etwa 15 Minuten ziehen lassen und dann mit den Händen ausdrücken.
- 3 EL braunen Rohrzucker bei mäßiger Hitze langsam zu bernsteinfarbenem Karamell schmelzen und mit einem kleinen Schuss Wasser ablöschen. Sobald der hart gewordene Karamell sich aufgelöst hat und durch Verdunstung zu einer zähen Flüssigkeit geworden ist, das Kraut und 2 EL ganzen Kümmel hinzufügen, die Hitze steigern und 2 bis 3 Minuten durchrühren.
- Dann mit Öl, einem guten Schuss Essig, Salz und weißem Pfeffer vermischen und ein paar Minuten ziehen lassen.
- Die Speckwürfel in einer Pfanne ohne Fett knusprig rösten, den Salat noch einmal mit Essig und ein paar Tropfen Balsamessig abschmecken und mit den Speckwürfeln bestreuen; Balsamico ist im Übrigen ein dem Karamell nicht unähnliches Suchtmittel.
Kleiner Tipp: Am besten schmeckt der Salat, wenn der Essig bei intensivem Hineinriechen in den Topf ein wenig in der Nase sticht und die Schleimhäute zur Aufnahme der Karamellaromen reizt.