
Achilles & Borlotti
Insalata di nervetti: ein Höhepunkt der kulinarischen Totalverwertung
aus der norditalienischen Küche des Quinto Quarto.
Venedig. Die Gegend um den Rialto-Markt. Leichter Hunger. In einer kleinen Bar namens „Pulperia I Compari“ stehen die typischen Cicchetti mit Kreide auf eine Tafel geschrieben: Es gibt Jakobsmuscheln, Oktopus, den unvermeidlichen Stockfisch Baccalá mantecata– und Insalata di nervetti, die ultimative Vermengung von bäuerlicher Bohnenkultur und Totalverwertung. Nervetti sind natürlich nicht, wie oft zu lesen ist, Nerven – ich wüsste auch gar nicht, wie man Nerven kochen sollte –, sondern Sehnen, und zwar die Achillessehnen vom Kalb; in manchen Regionen zählen auch die weichgekochten Knorpel des Kniegelenks dazu. Der Salat ist in Italien jedenfalls populär genug, um auch als Convenience-Gericht in Supermärkten angeboten zu werden.
Der kleine Happen in der venezianischen Bar war eine Offenbarung: Die transparenten, zu butterzarter Elastizität gekochten Kalbssehnen steuern noch einen Texturkick zu den bissfest gegarten Bohnen und den stundenlang in Essig eingelegten, knackigen Zwiebelspalten bei. Beim zweiten Bissen war klar: Das muss ich nachkochen.
Kalbsfuß? Beim Türken kein Problem
Aber woher Achillessehnen vom Kalb nehmen? Es ist wesentlich einfacher als man vermuten würde: Jeder türkische Fleischhauer dreht sich beim Wunsch nach Kalbsfüßen um, geht kurz in den Kühlraum und bringt welche. Die restlichen Zutaten sind schnell besorgt: Staudensellerie, Karotten, Lorbeer, weiße Zwiebeln, Zitrone und natürlich Bohnen. Am besten Borlotti. Und Zeit. Sehr viel Zeit.
Ich will ja nicht sagen, dass die Italiener durchwegs
kulinarische Fußfetischisten sind, aber ihre Fußspeisenkultur
ist gut entwickelt.
Ich will ja nicht sagen, dass die Italiener durchwegs kulinarische Fußfetischisten sind, aber ihre Fußspeisenkultur ist gut entwickelt. Ich sage nur: Zampone. Der gefüllte Schweinsfuß ist obligater Bestandteil des wahren Bollisto Misto, wie es in den Küchen Venetiens und der Emilia Romagna aufgetragen wird. Und ich sage: Zampetto di vitello; soll heißen Kalbsfuß. Aus ihm entsteht der Salat aus den Achillessehnen – gleichsam der Gipfel der Küche des quinto quarto, des fünften Viertels vom Rind, das einst den Armen vorbehalten war und sämtliche Innereien, Flachsen und Knorpel beinhaltet.


Ich habe Sehnensalat in Verona, Venedig und Modena gegessen, aber auch schon in Apulien, und zwar in einer Braceria, einer Art Fleischhauerei mit Heurigenbetrieb; dort kamen sie knusprig frittiert zu Tisch.
Sehnen gibt es aber auch in vielen anderen Küchen der Welt: Jedes halbwegs authentische chinesische Restaurant bietet sie an, meist ewig und noch eine Weile in Chiliöl geschmort und mit Sternanis und Sichuanpfeffer abgeschmeckt.
Mailand, Venedig, Brunnenmarkt
Claudia Ringel, die Wiener Fleischhauerin meines Vertrauens, hortet Rindersehnen ausgelöst und küchenfertig im Tiefkühlschrank, erzählte sie mir neulich: „Ich hab ein paar russische Kunden, die wollen das, weil sie draus irgendeinen Salat machen.“
Die Sehnenküche in Italien hat zwei Epizentren: In Mailand werden nervetti unter dem Dialektausdruck gnervitt serviert, in Venedig auch als spienza e nervetti co`e segoe, Milz und Sehnen mit Zwiebeln. Ich habe mir auf dem Brunnenmarkt in Wien-Ottakring einen Kalbsfuß besorgt; der reicht für einen kleinen Salat für vier Personen, wie er auch in den venezianischen Bacari über die Theke geschoben wird.
REZEPT
Insalata di nervetti
ZUTATEN FÜR 4 PORTIONEN
Für die Bohnen:
- 250 g Borlotti-Bohnen
- 1 Lorbeerblatt
- 2 bis 3 Zweige Thymian
Für den Kalbsfuß:
- 1/2 Liter trockener Weißwein
- 1 Schuss Weißweinessig
- 2 mittelgroße Karotten
- 2 Stangen Staudensellerie
- 2 Lorbeerblätter
- 1 EL schwarze Pfefferkörner
- 1 EL Salz
- 1 Kalbsfuß (am leichtesten bei türkischen Lebensmittelhändlern und auf Märkten erhältlich)
Für Zwiebel und Marinade:
- 1 weiße Zwiebel
- 1/8 Liter Weißweinessig
- 1 EL Weißweinessig
- 1 EL Zitronensaft
- 50 ml Olivenöl
- Salz und weißer Pfeffer aus der Mühle
- 2 EL gehackte Petersilie
ZUBEREITUNG
- Die Arbeiten beginnen am Vorabend, indem ich 250 g Borlotti-Bohnen einwässere.
- Am nächsten Vormittag setze ich in einem großen Topf einen Sud aus etwa 4 Liter Wasser, Wein, Essig, den in grobe Stücke geschnittenen Karotten und Staudenselleriestangen, Lorbeerblättern, Pfefferkörnern und Salz auf. Wenn der kocht, kommt der gewaschene Kalbsfuß dazu und köchelt nun an gute 4 Stunden gemütlich vor sich hin. Derweil schneide ich eine weiße Zwiebel in 8 Spalten, trenne die einzelnen Schichten voneinander und mariniere sie im Weißweinessig. Das sollte 4 bis 5 Stunden dauern, so wird die Zwiebel mild und zart knackig.
- Am Nachmittag koche ich die Bohnen in Wasser mit Lorbeer und Thymian weich, was nach dem Wässern nur noch eine gute halbe Stunde dauert.
- Die Sehne des Kalbsfußes ist mittlerweile butterweich und nur noch halb so lang wie vorher. Ich lasse sie auskühlen, löse sie vom Knochen, putze sie ein wenig zu – das bedeutet, ich entferne Knorpel und borstige Schwartenteile – und schneide sie in etwa 1 cm große Stücke.
- Die eingelegte weiße Zwiebel drücke ich in einem Sieb ein wenig aus und gebe sie mit den nervetti und den Bohnen in eine Schüssel.
- Für die Marinade verrühre ich Weinessig, Zitronensaft, Olivenöl, Salz, Pfeffer und Petersilie und vermische alle Zutaten damit. Dann zieht der Salat noch eine Stunde im Kühlschrank durch, darf danach wieder Zimmertemperatur annehmen und wird in kleinen Schüsseln serviert.